#Zorn im #Web

Zorn gleicht einem vorübergehenden Wahnsinn, denn er ist, ebenso wenig wie dieser, Herr über sich selbst.“

Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr – 65 n. Chr.), römischer Politiker, Rhetor, Philosoph und Schriftsteller

Zorn begegnet uns auf die ein oder andere Weise fast täglich im Internet. Der Amokläufer von Santa Barbara ließ seinem Zorn über Zurückweisung in zahlreichen Youtube-Videos freien Lauf, rechte, linke und religiöse Extremgruppen packen ganze Webseiten voll bis die Navi-Leiste vor Zorn glüht. Und auch der aufgeklärte Wutbürger vom Bahnhof lässt im Netz gerne mal den Shitstorm los, dass gestandenen, erwachsenen Firmen wie Jack Wolfskin, Zalando oder Burger King glatt das LOL in der Message vergeht.

Keiner ist davor gefeilt, wie das folgende Beispiel von Chris Nodder zeigt:

„Am 12. Januar 2011 hielt eine Fußgängerin auf einer Straße in Coventry, England, an, streichelte eine Katze, hob sie dann hoch, warf sie in einen Abfalleimer und schloss den Deckel. Lola, die Katze, verbrachte die Nacht in dem Abfalleimer, bevor sie am nächsten Tag von ihren Besitzern gefunden wurde.

Der Dame war wohl nicht klar gewesen, dass die Eigentümer der Katze eine Überwachungskamera an der Außenseite des Hauses angebracht hatten. Die verständlicherweise aufgebrachten Besitzer veröffentlichten online ein Video von dem Vorfall (Abbildung 4.6). Das Internet trat in Aktion und innerhalb von wenigen Stunden wurde die anonyme Dame, die die Katze weggeworfen hatte, als Bankangestellte Mary Bale identifiziert, die am anderen Ende der Straße wohnte und im Nachbarort arbeitete. Neben diesen Details veröffentlichten die Detektive außerdem noch Links zu ihrem Facebook-Profil sowie ihrem Arbeitsplatz und die Telefonnummer ihres Chefs. Als Ergebnis der Bedrohungen erhielt Bale daraufhin Polizeischutz.“

 

Das ist nur eines von vielen Beispielen bei der durch die Anonymität des Netzes scheinbar jegliche Hemmung beim braven Otto Norm flöten geht. Da wird einem Teenager nach einer jugendlichen Dummheit, wie dem falschen Halloween-Kostüm schon mal gern mit Lynchjustiz gedroht.

John Suler sieht laut Nodder sechs Faktoren, die zur Enthemmung im Netz führen und den umgänglichen Nachbarn zur Online-Wildsau mutieren lassen:

http://truecenterpublishing.com/psycyber/disinhibit.html

Das Problem ist nicht, dass es existiert, denn auch wenn es nicht schön ist, so ist das wohlige Gemeinschaftsgefühl des anonymen Mops kein Phänomen des Netzzeitalters. Von Beginn der Menschheitsgeschichte haben sich Menschen zusammengeschlossen, um gemeinsam und unerkannt zu steinigen, zu brandschatzen oder einfach greifbare Minderheiten zu verfolgen. Einige Gruppen haben dieses Gefühl versucht zu verstärken, indem sie sich Kapuzen aufsetzten.

Nein, die Frage ist doch, wie kann man selbst auf seiner Webseite mit diesem Phänomen umgehen? Denn eines ist sicher ignorieren kann man es nicht. Nodder hat in seinem Buch „Teuflisch gutes Webdesign“ ein paar Richtlinien zusammengestellt, wie man mit User-Zorn umgehen kann.

Begegnen Sie Zorn mit Humor

Wenn Sie eine Kleinigkeit verbockt haben, entschärfen Sie die Situation durch eine humorvolle Entschuldigung. Bei größeren Problemen oder in Erwartung einer wütenden Reaktion sollten Sie jedoch lieber einen beruhigenden und respektvollen Ton anschlagen.

 

Entspannen Sie Ihre Gesichtsmuskeln. Spannen Sie nun die Muskeln über den Augen an, sodass sich die Augenbrauen zusammenziehen. Spannen Sie gleichzeitig die Wangenmuskulatur an (als wollten Sie lächeln). Fühlen Sie sich fröhlicher? Paul Ekman stellte fest, dass selbst das bewusste Annehmen eines bestimmten Gesichtsausdrucks das dazugehörige Gefühl hervorrufen kann.

Es ist schon unter normalen Umständen schwierig genug, im Internet Humor zu vermitteln, weil er so leicht missverstanden werden kann. Wenn Sie sich jedoch sicher sind, dass Ihre Botschaft eindeutig ist, kann dies eine wertvolle Methode sein, jemandem ein kleines Lächeln ins Gesicht zu zaubern und zu verhindern, dass er wirklich sauer wird.

Aber mit ziemlicher Sicherheit werden die Nutzer zur Weißglut getrieben, wenn der gewünschte Internetservice nicht verfügbar ist. 2011 setzte Tumblr.com Fan-Art von Matthew Inman (TheOatmeal.com) auf den Fehlermeldungsseiten ein. Tumblr.com ist eine bilderbasierte Blogging-Plattform. Da man die Seite kaum als auftragsentscheidenden Service bezeichnen kann, kann eine humorvolle Fehlermeldung sicher Ärger zerstreuen, bevor er entsteht.

 

Ganz wichtig ist auch die Art des Humors. Cartoons mit feindseligem Unterton, in denen zum Beispiel eine Figur eine andere niedermacht, fördern Zorn und Aggression eher, als dass sie diese Gefühle dämpfen.

Es gibt Seiten und Umstände, bei denen Humor nicht angebracht ist. Mozy ist ein Online-Backup-Service. Die Seite ist in unbeschwertem, leicht humorvollem Ton gehalten, vermutlich um den Akt der Datenspeicherung weniger abschreckend zu machen. Auf der Fehlermeldungsseite ist dieser Tonfall jedoch keine gute Idee. Die Folgen eines Fehlers auf einer Daten-Backup-Seite sind definitiv ernster als bei einem Foto-Blog. Unglücklicherweise beginnen einige Fehlermeldungen von Mozy mit einem humorigen »Whoops!« (Abbildung 4.2). Angesichts der Tatsache, dass der Nutzer zu dem Zeitpunkt, wenn er dies liest, bereits leicht verärgert oder aufgebracht ist, schürt dieser Ansatz den Zorn, statt ihn zu dämpfen.

 

Die Interaktion zwischen Mozy und dem Kunden bedeutet, dass ein Systemfehler, der beim Kunden zu Zorn führt, nur durch eine Problemlösung aufgelöst werden kann. Die Flucht in Ablenkungsmanöver sollte hingegen dem Unterhaltungssektor vorbehalten bleiben.

Humor wird ständig wiederkehrende Fehler nicht bemänteln. Twitters Äquivalent zu den Tumbeasts ist der Fail Whale. Unglücklicherweise erschien der Fail Whale in den frühen Tagen von Twitter so häufig, dass sein humoriger Aspekt auf der Strecke blieb. Dieser Umstand und die Wandlung Twitters von einer Neuheit zu einer seriöseren Kommunikationsplattform ließen eine humorvolle Fehlermeldung als unpassend erscheinen.

  • Setzen Sie Humor ein, um die Möglichkeit aufkommenden Zorns zu verringern, aber nicht, um bereits vorhandenem Zorn zu begegnen.
  • Es sollte drolliger Humor sein, der nicht feindselig oder angriffslustig daherkommt, da dies eher Aggressionen schürt.
  • Scherze sind nur ein einziges Mal lustig. Der scherzhafte Inhalt sollte nicht zu oft auftauchen, da er sonst an Wirkung verliert oder sogar nach hinten losgehen kann.
  • Wenn Sie wissen, dass der Nutzer wahrscheinlich schon ärgerlich ist, wenn er an diesen Punkt kommt, denken Sie lieber über einen beschwichtigenden Ansatz nach. Machen Sie den ultimativen Test und stellen Sie sich die folgende Frage: Wenn Sie in dem Moment dem Nutzer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden, würde er Ihnen aufgrund der humorigen Reaktion eine knallen?

 

Vermeiden Sie offenkundigen Zorn durch Gewöhnungseffekte

Fangen Sie klein an. Vermeiden Sie eine Gegenreaktion, indem Sie nacheinander mehrere kleine Änderungen vornehmen anstatt einer großen. Sind die jeweiligen Änderungen entsprechend harmlos, wird der Nutzer kaum so wütend, dass er rebellieren wird.

 

Netflix möchte sich aus dem DVD-Verleih zurückziehen und all seine Kunden auf das Online-Streaming umstellen. Beide Geschäftsbereiche sind profitabel, doch ist der Versandhandel Netflix deutlich teurer als der Download digitalisierter Inhalte aus dem Internet. Seit Oktober 2011 geht nahezu ein Drittel der Downstream-Bandbreite in Nordamerika auf das Konto von Netflix. Das ist mehr als der gesamte http-Datenverkehr zusammengenommen.

Im Juli 2011 kündigte Netflix für die Kombination aus Streaming und DVD-Versand eine Preiserhöhung von 10 auf 16 Dollar pro Monat an, um auf diese Weise das Angebot des Nur-Streamings auf 8 Dollar senken zu können und es damit verlockender zu machen. Allein diese Preisänderung hatte messbare Auswirkungen: Ungefähr eine Million der 25 Millionen Abonnenten stornierte den Vertrag innerhalb des Vierteljahres, in dem die Änderung in Kraft trat.

Dieser Preiserhöhung folgte im September 2011 umgehend die Ankündigung einer Aufsplittung in zwei getrennte Unternehmen: Netflix für das Download-Abo und Qwikster für den DVD-Versand per Post – jedes Abo für 8 Dollar im Monat. Das war sowohl für die Kunden als auch für die Presse zu viel der Veränderung. Jason Gilbert von der Huffington Post schrieb:

In dem ersten Monat seines Bestehens schaffte Qwikster nichts anderes, als Groll gegenüber Netflix zu schüren. Der mutmaßliche Zweck des Splits – Netflix-Ressourcen und Energien auf die Akquise von Streaming-Inhalten und den stufenweisen Abbau des weniger profitablen und gefragten DVD-Versands zu konzentrieren – wurde niemals deutlich kommuniziert. In einem Video-Blog-Beitrag hieß es, Qwikster würde dem Kunden mehr Bequemlichkeit bieten, doch das gesamte Konzept von Qwikster war alles andere als bequem. Netflix zwang damit alle 12 Millionen Kunden mit Kombi-Abonnement, zwei neue Kundenkonten bei zwei verschiedenen Internetunternehmen zu erstellen und zweimal die Kreditkarten- und sonstigen Daten herauszurücken – und das alles auf einer neuen Website von einem Typen, der das Wort »Quick« nicht einmal richtig buchstabieren konnte.

Abschließend sei noch erwähnt, dass Netflix merkte (zweifelsohne durch rapide sinkende Aktienkurse), dass es einen Fehler gemacht hatte. Reed Hastings, CEO des Unternehmens, erklärte: »Es ist ein Unterschied, ob man sich schnell bewegt – was Netflix jahrelang hervorragend gemacht hat – oder ob man zu schnell ist, und genau das waren wir in diesem Fall.« Das Unternehmen nahm die Trennungspläne zurück und informierte seine Kunden mit einer kurzen, freundlichen Mitteilung.

Es ist klar, dass Netflix’ Pläne aus verschiedenen Gründen fehlschlugen – die Kunden wurden finanziell und physisch überfordert – und selbst das Unternehmen musste zugeben, dass es die Änderungen zu schnell eingeführt hatte.

Wir hassen Veränderungen. Wir lieben die Beständigkeit. Der vornehme Ausdruck dafür ist Status-quo-Fehler: Wir wünschen uns, dass die Dinge bleiben, wie sie sind, und empfinden jede Veränderung als Verlust. Verlustaversion führt dazu, dass wir den potenziellen Verlust durch Veränderung über- und die potenziellen Vorteile unterschätzen. Zudem neigen wir zur Überbewertung unserer aktuellen Situation (Ausstattungseffekt). Das Ergebnis all dessen ist, dass wir bei unseren Ansichten bleiben. Genauso ist es, wenn wir den Eindruck haben, dass uns zu wenige Informationen hinsichtlich unserer Wahlmöglichkeiten geboten werden. Der Status-quo-Fehler kann reduziert werden, wenn wir besser informiert werden oder wenn wir einfach mehr Einfluss auf unsere Wahlmöglichkeiten erhalten.

Dies alles hängt natürlich auch von den neuen Alternativen ab – ob sie so gut wie oder besser als die momentanen Möglichkeiten sind. Wenn die neuen Optionen die Zielgruppe schlechter dastehen lassen (wie im Fall von Netflix, wo die Kunden zwei getrennte Konten anlegen sollten), ist der Wunsch nach einem Status quo durchaus nicht unvernünftig.

Eine weitere Möglichkeit, um Änderungen einzuführen, ist eine schrittweise Vorgehensweise. Die folgende Geschichte findet immer wieder ihren Weg in die Medien: Setzt man einen Frosch in einen Topf mit heißem Wasser, wird er alles daran setzen, sofort wieder herauszuspringen. Setzt man ihn jedoch in kaltes Wasser, das ausreichend langsam erwärmt wird, wird er es nicht versuchen. Auch wenn das offensichtlich nicht stimmt, dient diese Geschichte nach wie vor als Metapher für bestimmte menschliche Verhaltensweisen. Führt man Änderungen entsprechend gemächlich ein, wird der Nutzer sie nicht bemerken.

Google nimmt häufig maßvolle Änderungen im E-Mail-Dienst Gmail vor. Obwohl die Nutzer die meisten Änderungen nicht bemerken, zeigt ein Vergleich der Benutzeroberfläche von heute mit der von vor ein paar Jahren überraschend viele Unterschiede. Bei den wenigen Malen, als Änderungen in größerem Ausmaß nötig waren (wie bei der Benutzeroberflächenkonsolidierung im Jahr 2011) oder als Überarbeitungen sichtbarer Elemente vorgenommen werden mussten (wie bei der Anpassung der User Experience beim Verfassen neuer Beiträge im Jahr 2012), bot Google eine Vorschau auf das neue Layout mit der Möglichkeit, wieder zur alten Ansicht zurückzukehren. Aufgrund von Statistiken, wie viele Nutzer die Änderung rasch angenommen hatten und wie viele wieder zum ursprünglichen Zustand zurückgekehrt waren, verschaffte sich Google frühzeitig einen Überblick, wie erfolgreich die Änderung sein würde. So konnten verschiedene Möglichkeiten im Voraus getestet werden.

Wenn die Kunden kleinere Änderungen bemerken und zunächst mit einem Aufschrei reagieren, akzeptieren sie üblicherweise nach einer relativ kurzen Anpassungsphase die neuen Techniken und Herangehensweisen. Nach einer Weile vergessen sie sogar, dass es einmal anders war. Facebook machte sich das mehrfach zunutze, um umfangreichere Ergänzungen der Benutzeroberfläche durchzusetzen, und vertraute darauf, dass die Nutzer bereits nach kurzer Zeit ihre Petitionen und Aktionen vergessen und sich nicht mehr beschweren würden.

Messen Sie vorab die Auswirkungen der Veränderung. Bieten Sie eine Vorschau und die Möglichkeit, zur alten Ansicht zurückzukehren. Auf diese Weise erfahren Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz ist.

Versichern Sie Ihren Kunden, dass die Änderung im Prinzip keine Neuheit ist und dass sie für ihre Routinen, Gewohnheiten und Arbeitsabläufe keine große Umstellung bedeutet. Das hilft, den Status-quo-Fehler zu umgehen und die Nutzer zur Zustimmung zu bewegen.

Machen Sie die Kunden über einen gewissen Zeitraum mit der anstehenden Änderung vertraut, sodass sie bei der Umsetzung nichts »Neues« mehr ist.

Teilen Sie den Kunden mit, dass eine Änderung leider notwendig sei, räumen Sie ihnen aber die Möglichkeit ein, beim »Althergebrachten« zu bleiben und nur die aus technischen Gründen notwendigen Änderungen zu akzeptieren. Sind die Änderungen entsprechend dezent, überwindet die Benachrichtigungstaktik den Status-quo-Fehler.

Nehmen Sie Änderungen in kleinen Schritten vor. Es kann sich lohnen, einen Zwischenstatus einzurichten, um die Kunden langsam zum von Ihnen angepeilten Ziel zu führen.

Müssen Sie eine große Änderung vornehmen, holen Sie zuvor das Feedback Ihrer Kunden ein. So enttäuschen Sie ihre Erwartungen nicht so stark. Selbst wenn Ihre Seite anschließend effizienter ist und mehr Funktionen aufweist, müssen Sie dafür sorgen, dass die Nutzer ihre gewohnten Arbeitsschritte beibehalten können.

Begründen Sie die Änderungen damit, dass Sie auf Kundenwünsche reagieren. Denken Sie darüber nach, zum Beweis eine Liste mit Funktionswünschen zu veröffentlichen.

Achten Sie mehr auf den Tenor der anschließenden Beschwerden als auf deren Lautstärke. Es könnten berechtigte Kritiken darunter sein.

Wenn Sie ein virtuelles Monopol innehaben, können Sie auf den Gewöhnungseffekt verzichten und versuchen, die Änderungen dennoch durchzuführen. Prüfen Sie jedoch zuvor, wie Ihre Chancen stehen: Facebook hat seine unangreifbare Position auf diese Weise bereits mehrmals unter Beweis gestellt. Netflix musste bei dem Versuch feststellen, dass seine Position nicht so unanfechtbar war wie angenommen.

Schlagen Sie Ihre Gegner mit metaphysischen Argumenten

Wenn der Appell an die Vernunft ins Leere geht, umgehen Sie die Logik und setzen Sie metaphysische Gedankengebäude ein. Behaupten Sie, dass Ihr Angebot wissenschaftlich nicht erklärbar ist.

 

Es ist schwer, ernsthafte Diskussionen über Themen wie Intelligent Design versus natürliche Auslese zu führen, denn die eine Seite beruft sich auf ihre religiösen Überzeugungen, die andere auf wissenschaftliche Beweise. Zu jedem wissenschaftlichen Beweis zugunsten der Evolution kann ein Anhänger des Schöpfungsgedankens einen auf dem Glauben basierenden Gegenbeweis liefern. Bei der Unvereinbarkeit dieser beiden Denkweisen ist der Ärger fast schon vorprogrammiert.

In dieser Situation versagen wissenschaftliche Argumente, weil die Gegner die Diskussion in metaphysische Gefilde übertragen haben (meta meint hier jenseitig). Jetzt konzentriert sich die Diskussion mehr auf das, was man glaubt, als auf das, was mit wissenschaftlichen Methoden messbar ist.

Offensichtlich ignorieren wir Menschen wissenschaftliche Erkenntnisse gerne, wenn sie mit unserem Glauben im Widerstreit stehen. Das ist auch dann der Fall, wenn wir uns selbst eigentlich als wissenschaftsfreundlich eingestellt wahrnehmen. Wir begründen diese Unstimmigkeit mit der Behauptung, der strittige Bereich könne wissenschaftlich einfach nicht beschrieben werden. Geoffrey Munro von der Towson University nennt das »wissenschaftliche Impotenz«.

In solchen Fällen fällt es Menschen, die mit den Forschungsergebnissen nicht einverstanden sind, schwer, die Quelle der Information oder die Methodik der Studie zu widerlegen – also behaupten sie gerne, das Thema sei zu kompliziert für die Wissenschaft. Mit anderen Worten, sie berufen sich auf das metaphysische Fehlen einer Erklärung. Wenn diese Art der Rechtfertigung schon in den Köpfen von sonst wissenschaftlich eingestellten Menschen stattfindet, kann man wohl sagen, dass dieser Mechanismus allgemeingültig ist.

Es ist kein Spiel zu fairen Bedingungen. Menschen, die Zuflucht zu metaphysischen Argumenten nehmen, steht ein breiteres Spektrum von Werkzeugen zur Verfügung als denjenigen, die sich an die Wissenschaft halten. Sie versuchen möglicherweise, mit Argumenten für eine bestimmte pseudowissenschaftliche Idee die Beweislast umzukehren, sodass die Skeptiker den Beweis führen müssen, und behaupten, dass Dinge, die sich nicht als falsch herausgestellt haben, wahr sein müssen, benutzen vage, nicht überprüfbare oder obskure Angaben und appellieren an Emotionen statt an Logik, beispielsweise mit einer Verschwörungstheorie.

Der Psychologieprofessor Anthony Pratkanis von der Universität von Santa Cruz ist ein Experte für Überzeugungskraft und Propaganda. Er führt neun Taktiken auf, mit denen man Pseudowissenschaft verkaufen kann.

  • Schaffen Sie ein Phantom: Ein unerreichbares Ziel, das wahr und realistisch wirkt, aber in Wirklichkeit stets immer mindestens einen Schritt außerhalb der Reichweite bleibt.
  • Stellen Sie eine Rationalisierungsfalle: Gewinnen Sie das Interesse der Menschen. Dann werden sie nicht mehr Ihre Kompetenz beurteilen, sondern stattdessen nach dem Beweis trachten, dass sie Recht haben.
  • Stellen Sie die Quellen glaubwürdig und aufrichtig dar: Achten Sie darauf, dass die Person, die die Behauptungen aufstellt, wie eine glaubwürdige Autorität wirkt.
  • Schaffen Sie einen »Granfalloon«: Der Begriff stammt vom Autor Kurt Vonnegut und bedeutet »eine stolze und bedeutungslose Vereinigung von Menschen«, die dieselben Rituale und Symbole, Ausdrucksweisen und Glaubensinhalte, Gefühle, Insiderinformationen und Feinde haben.
  • Nutzen Sie selbst erzeugte Überzeugungen: Wenn Sie die Menschen darum bitten, das Konzept zu »verkaufen«, lassen sie sich eher von seinen Vorzügen überzeugen.
  • Verwenden Sie plastische Beispiele: Ein drastisch beschriebener einzelner Vorfall kann logische Argumente ausstechen.
  • Nutzen Sie Voreingenommenheit: Untermauern Sie das Argument mit Begriffen, die die Konkurrenz schlecht dastehen lassen, grenzen Sie sich von der Konkurrenz ab (wir haben eine besondere Technik, die uns von den Betrügern der Branche unterscheidet), wecken Sie Erwartungen (beispielsweise durch das Zuweisen von Eigenschaften) und nennen Sie Entscheidungskriterien (legen Sie Ihre eigenen Richtlinien fest, was ein akzeptabler Beweis ist).
  • Verwenden Sie Heuristiken und Gemeinplätze: Dies sind Entscheidungsregeln, Normen und Glaubensüberzeugungen, die allgemein akzeptiert sind, etwa »Natürliches ist immer gut« oder »Was Geld kostet, muss mehr wert sein«. Beides kann für teure Biolebensmittel genutzt werden, um ihnen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Solche Aussagen sind allgemein akzeptiert und werden deshalb nur selten infrage gestellt.
  • Greifen Sie Ihren Gegner durch Anspielungen und Rufmord an: Stellen Sie ihn als voreingenommenen, schlechten Wissenschaftler dar, der wahrscheinlich bald für sein offensichtliches Fehlverhalten angezeigt wird.

Mit solchen metaphysischen Behauptungen können Sie quasi-religiöse Gefühle hervorrufen. Das verwundert kaum, denn in der Tat werden manche dieser Techniken von religiösen Organisationen verwendet. Im Jahr 2011 stellte eine BBC-Dokumentation über »Supermarken« fest, dass bei einer Magnetresonanztomografie eines Apple-Fans tatsächlich die gleichen Gehirnregionen stimuliert wurden wie die eines gläubigen Menschen beim Betrachten religiöser Bilder. Die Anthropologin Kirsten Bell von der Universität von British Columbia forscht über Religionen in Südkorea und wandte sich später der biomedizinischen Forschung zu. Während sie für TechNewsDaily über eine Apple-Produkteinführung berichtete, entdeckte sie direkte Parallelen zur Religionsausübung von Gläubigen, wie etwa die Nutzung heiliger Symbole (das Apple-Logo), eine Grundsatzrede von einem verehrten Führer (Steve Jobs) und zahlreiche willige Jünger (die Presse). Dies bestätigte frühere Forschungen von Pui-Yan Lam von der Washington State University, der herausfand, dass die Beziehungen von Mac-Anhängern zu ihren Geräten ans Spirituelle grenzen.

Bell musste zwar zugeben, dass sich kein direkter Vergleich ziehen lässt, weil der Sinn von Religion ja darin besteht, den Sinn des Lebens zu erklären, während die Ziele der Technologiebranche wohl weniger edel sind. Trotzdem kann religiöse Inbrunst bei Ihren Kunden ganz offensichtlich nützlich sein, vor allem, wenn die Kunden das Gefühl haben, dass sie den »Underdog« unterstützen, was Apple vor seinem Aufstieg in den letzten Jahren ja auch darstellte. Der Ärger der Kunden erlaubt es ihnen, jeden Kritiker als Besitzer »minderwertiger« Produkte und demzufolge als »Neider« darzustellen.

Rein spaßeshalber betrachten wir einige von Pratkanis Techniken aus Apples Perspektive:

  • Schaffen Sie ein Phantom: Jedes neu veröffentlichte Apple-Produkt hat gerade so viele neue Funktionen oder so viel Sexappeal, dass es die Schwächen der von Ihnen momentan genutzten Version hervorhebt. Möglicherweise muss Apple seinen Kunden dieses quasi-religiöse Gefühl vermitteln, damit sie immer die neueste Produktversion kaufen. »Dieses iPhone wird ganz bestimmt das letzte sein, das ich brauche« … bis das nächste herauskommt.
  • Stellen Sie eine Rationalisierungsfalle: Der neue Zustrom von Apple-Nutzern hat die ursprüngliche Begeisterung der Mac-Jünger möglicherweise verwässert; die Rationalisierungsfalle ist jedoch nach wie vor sichtbar – man braucht nur eine Diskussion über den relativen Wert pro Euro im Vergleich zu einem normalen PC beginnen.
  • Stellen Sie die Quellen glaubwürdig und aufrichtig dar: Steve Jobs, der mittlerweile verstorbene Apple-Vater, wurde durch den Chefdesigner Jony Ive ersetzt. Dieser ist nun der spirituelle Führer des Apple-Clans.
  • Schaffen Sie einen »Granfalloon«: Gehen Sie in einen beliebigen Apple-Store, um zu erleben, wie Rituale, Symbolik und Emotionen das Gefühl wecken, zur Eigengruppe der Apple-Nutzer zu gehören. An der Tür könnte genauso gut stehen: »Willkommen zu Hause«.
  • Nutzen Sie selbst erzeugte Überzeugungen: Die Apple-Fans sind die eigentliche Vertriebsmannschaft des Konzerns. Der Hype und die begrenzte Anfangsverfügbarkeit führen dazu, dass die Early Adopters von vollkommen Fremden gefragt werden, wie ihnen ihr neues Spielzeug gefällt. Es ist unwahrscheinlich, dass diese glühenden Verehrer sagen werden: »Es gab schon bessere Geräte!«.
  • Verwenden Sie plastische Beispiele: Neue Produkte werden auf der Bühne mit ein paar ausgewählten Anwendungen vorgeführt, die die Schlüsselelemente auf emotional überzeugende Art und Weise demonstrieren (Bearbeitung von Urlaubsfotos, die Planung einer spannenden Veranstaltung und so weiter).
  • Nutzen Sie Voreingenommenheit: Apple schreckt oft vor dem direkten technischen Vergleich mit der Konkurrenz zurück. In der Tat sagte CEO Tim Cook: »[Produktspezifikationen] werden von den Unternehmen erdacht, weil sie keine tolle Erfahrung bieten können.« Apple umgeht diesen objektiven Vergleich lieber und zieht dafür Vergleiche zu den eigenen Vorversionen an, um dann direkt zu ästhetischen und emotionalen (metaphysischen) Vergleichen mit den Konkurrenzprodukten überzugehen.
  • Nutzen Sie Heuristiken und Gemeinplätze: Einige der weithin akzeptierten Apple-Aussagen lauten »Qualität hat ihren Preis«, »Sie zahlen für ein gutes Design«, »Leicht anzuwenden« und »Think different«.
  • Greifen Sie Ihren Gegner an: Diese Technik wendet Apple eher nicht in der Öffentlichkeit an. Trotz Jobs Ankündigung des Thermonuklearkriegs gegen Android wird die Konkurrenz im Apple-Marketing selten auch nur erwähnt. Stattdessen spricht man traurig darüber, dass der Rest der Branche es einfach »nicht so drauf hat« wie Apple.

Wenn Sie Apple-Produkte nutzen, möchte ich mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass Sie beim Lesen dieser Liste zornig geworden sind. Allerdings ist diese emotionale Reaktion eine Analyse wert. Würden wir uns denn die Mühe machen, uns von streng logischen Vergleichen hinweg auf gefühlsgeladenes Terrain zu begeben, wenn es tatsächlich nur um die Technologie ginge? Und bitte keine Hass-Mails – ich habe dieses Buch auf einem iMac geschrieben.

 

  • Verlassen Sie sich nicht auf sachliche Argumente. Verschaffen Sie sich eine relativ unangreifbare Position, indem Sie »Beweise« erbringen, die wissenschaftlich nicht widerlegt werden können. Gegen spirituell oder emotional ansprechende Argumente oder den Anspruch, etwas zu haben, das »wissenschaftlich nicht erklärbar ist«, können wissenschaftliche Tatsachen alleine nichts ausrichten.
  • Schieben Sie die Beweislast, Ihre Aussagen zu widerlegen, anderen zu. Wenn Ihre Aussagen entsprechend breit gefächert oder allgemein sind, können Sie das Problem neu definieren, selbst wenn zwingende negative Beweise vorgelegt werden.
  • Suchen Sie sich einen charismatischen und glaubwürdigen Sprecher, der Ihre allgemein gehaltenen Aussagen wiederholt. Es ist hilfreich, wenn dieser Sprecher sich bereits Vertrauen erarbeitet hat – selbst in einem nur verwandten Bereich (»Ich bin kein Arzt, aber in der Fernsehserie spiele ich einen.«)
  • Machen Sie Ihre Kunden zu Vertrieblern. Damit überzeugen Sie diese Kunden einerseits, dass es sich lohnt, das Produkt zu verkaufen. Andererseits bringen Sie sie dadurch auch dazu, den eigenen Gebrauch des Produkts zu rechtfertigen.
  • Verbessern Sie das Gefühl der Zugehörigkeit, indem Sie ihnen ein Gefühl der Identität und einen Treffpunkt bieten, an dem sie sich gegenseitig in dem Glauben an das Produkt bestärken können. Wenn Sie ein »Wir gegen die Welt«-Ambiente erzeugen, rücken die Kunden näher aneinander und verteidigen Ihr Produkt.
  • Erstellen Sie statt Datenblättern mit nüchternen Fakten ein paar klare und emotional ansprechende Fallstudien.
  • Wenn viele Fakten vorhanden sind, zeigen Sie sie. Sie polarisieren damit Ihr Publikum – die Nutzer, die bereits gegen Sie waren, werden zahlreicher; aber die Menschen, die an Sie glauben, werden zu noch treueren Jüngern.
  • Wenn alle Stricke reißen, beschweren Sie sich über »das Establishment« und auf welche »vorgestrige« Art und Weise die Bewertung Ihrer Produkte Ihre wunderbare neue Idee herunterzieht.

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